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Das menschliche Gehirn und seine Fähigkeiten sind im Tierreich einzigartig: Die Art und Weise, wie wir sprechen, denken und Informationen über Generationen hinweg austauschen, findet keine Entsprechung bei unseren Vettern, den Affen. Unsere nächsten (ausgestorbenen) Verwandten, die Neandertaler und Denisovaner, hatten jedoch möglicherweise ganz ähnliche Fähigkeiten.

Die Erforschung der evolutionären Entwicklung kognitiver Eigenschaften des Menschen ist eine große technologische Herausforderung. „Es ist kaum möglich, die komplexe Vergangenheit des menschlichen Gehirns zu verstehen, wenn man sich nur auf die Anatomie stütz. Wir haben versteinerte Schädel, aber keine vollständig erhaltenen Gehirne unserer Vorfahren“, sagt Wulf Haubensak, ehemaliger Gruppenleiter am IMP, jetzt Professor an der Medizinischen Universität Wien.

Was uns jedoch zur Verfügung steht, sind antike Genome und alle darin enthaltenen Informationen. Die Genome der Neandertaler und Denisovaner wurden 2010 bzw. 2012 erstmals vollständig sequenziert. Der Vergleich dieser Genome mit den unseren hat ein völlig neues Fenster in die Vergangenheit geöffnet. Mit dem Fortschritt der Sequenzierungs- und Analysetechniken werden diese Vergleiche immer genauer und bieten neue Möglichkeiten für die Forschung.

Ein Team von Wissenschaftler:innen des IMP, des VRVis Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung, der Max Perutz Labs und anderer Einrichtungen haben anhand historischer Genome und moderner Bildgebungsdaten des Gehirns die Geschichte der Gehirnfunktionen von archaischen Homininen bis hin zum modernen Menschen rekonstruiert. In ihrer Studie, die jetzt in Cell Reports veröffentlicht wurde, zeigen sie, dass Sprache und strategisches Denken die primären Ziele der natürlichen Selektion beim modernen Menschen waren. Um diese Informationen zu extrahieren, haben Florian Ganglberger und Katja Bühler vom VRVis einen neuartigen computergestützten neuroanatomischen Ansatz entwickelt: Mit Hilfe von multidimensionalen Hochleistungs-Clustering-Methoden analysierte das Forscherteam 9.000 Gene, um funktionelle Gehirnkarten zu erstellen, die Aufschluss über die Entwicklung evolutionär relevanter Merkmale geben.

Das VRVis kann in diesem Bereich auf bereits über ein Jahrzehnt an Erfahrung und erfolgreich entwickelter Data Science-Lösungen für die rechnerische Auswertung großer neurowissenschaftlicher Daten zurückblicken. Ebenso entwickelt die Biomedical Image Informatics-Forschungsgruppe Daten-Plattformen zum Management, der Integration, der Visualisierung und dem Mining großer Sammlungen neurowissenschaftlicher Bild- und Netzwerkdaten und deren molekularem Kontext.

Das menschliche Gehirn durchleuchten, um die Vergangenheit zu verstehen

„Wenn man das menschliche Gehirn mit einem funktionellen MRT bildlich darstellt, leuchten einige Bereiche auf, während man eine bestimmte Aufgabe ausführt. Diese Bereiche stellen Neuronen-Netzwerke dar, die eine Reihe von Genen aktivieren, damit sie ihre Aufgabe erfüllen“, erklärt Joanna Kaczanowska, Mitautorin der Studie. „Wir wissen, welche Gene in welchen Netzwerken aktiv sind, und wir können die Sequenzen dieser Gene beim Menschen mit denen anderer Arten vergleichen.“

Anstatt Informationen aus fossilen Schädeln zu extrapolieren, haben die Forschenden mithilfe von Data Mining große Datensätze des modernen menschlichen Gehirns ausgewertet und nach Hinweisen auf die Vergangenheit gesucht. Sie suchten nach Spuren natürlicher Selektion in sämtlichen menschlichen Genen, die an Gehirnnetzwerken beteiligt sind, um herauszufinden, welche kognitiven Merkmale dem stärksten Selektionsdruck ausgesetzt waren.

Nachdem die Forschenden dieses Verfahren beim modernen Menschen angewandt hatten, gingen sie die Abstammungslinien bis zu den archaischen Primaten zurück, also von vor 60 Millionen Jahren bis heute, und kartierten dabei den Selektionsdruck. Dabei fanden sie heraus, dass Gene, die an der Sprache beteiligt sind, vor 7,4 bis 1,7 Millionen Jahren bei unseren frühen homininen Vorfahren zahlreiche Veränderungen erfahren haben, was darauf hindeutet, dass grundlegende Sprachfähigkeiten für die Entwicklung von Denisovas, Neandertalern und modernen Menschen entscheidend waren.

Nach der Abspaltung des modernen Menschen vom Neandertaler vor 800.000 Jahren wurde neben der Sprache außerdem strategisches Denken zu einem wichtigen Merkmal der natürlichen Selektion. Es ist also anzunehmen, dass die Kombination aus fortgeschrittenen Sprachkenntnissen und strategischem Denken den Unterschied zwischen unserem Überleben und dem Untergang der Denisovaner und Neandertaler ausgemacht haben könnte.

„Seit ich als Kind Bilder von Lucy gesehen habe, bin ich von der Geschichte des Menschen fasziniert“, sagt Wulf Haubensak. „Nach antiken Schädeln zu graben ist sehr spannend, aber bisher hat es nicht viele Informationen über die Evolution des Gehirns und seine Funktionen hervorgebracht. Die Erforschung heutiger und historischer Genome und die Übertragung dieser Daten auf unser modernes menschliches Gehirn ermöglicht uns ganz neue Einblicke in unsere Geschichte.“

In Zukunft möchte Haubensak die Methode verfeinern, um bestimmte Netzwerke im Gehirn zu untersuchen – solche, die mit Emotionen und sozialen Interaktionen zu tun haben. Er hofft, damit weitere Data-Mining-Studien anregen zu können: In der Fülle der genomischen und anatomischen Datensätze, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, gibt es noch viel zu entdecken.