Das Gehirn ist für viele das komplexeste und spannendste aller Organe. Die ersten dokumentierten Hirnoperationen fanden bereits 5000 Jahre v. Chr. statt. Die Neugier des Menschen, die Abläufe des Nervensystems und des Gehirns zu verstehen, reichen mindestens bis in die Bronzezeit zurück. Heutzutage können die modernen Neurowissenschaften auf eine breite Palette an Werkzeugen zurückgreifen, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen - von bildgebenden Verfahren über Verhaltensexperimenten bis hin zu genetischen Werkzeugen. All diese Methoden und Verfahren haben dabei eines gemeinsam: Sie produzieren große, komplexe und heterogene Daten. Bei der Auswertung dieser "Big Data" setzen die Neurowissenschaften immer mehr auf Methoden der Informatik und höheren Mathematik. Genau hier setzt die Arbeit des VRVis im Bereich der datengetriebenen Neurowissenschaften an: in der Anwendung und Entwicklung neuer Methoden zur Extraktion genau jener Informationen, die in unseren Neuronen und Gehirnzellen ruhen und Antworten auf die Funktionsweise des Körpers geben.
In der Natur hängt das Überleben oft davon ab, ob ein Tier die richtige Entscheidung trifft, ob es etwas ausprobiert oder vermeidet. Das richtige Verhalten bedeutet hier mitunter den Unterschied zwischen Nahrungssicherung und Todesgefahr. Diese sogenannten affektiven Entscheidungen haben ihre Wurzeln in Mechanismen, die es dem Gehirn erlauben, seiner Umwelt einen Wert zuzuweisen. Genau diese Mechanismen entschlüsselten nun die Forscherinnen und Forscher, indem sie Methoden aus verschiedenen Disziplinen kombinierten. Zunächst wurden durstige Mäuse auf Pawlowsche Töne konditioniert: Während sie anfangs unsicher waren, was die Töne bedeuteten, lernten sie, dass einer dieser Töne einen lohnenden Wassertropfen und ein anderer einen leichten Schmerzreiz voraussagte. Eine erfolgreiche Assoziation der Töne mit Belohnung oder Schmerz führte dann entweder zu einer Annäherung an das Wasser oder einem aversiven Erstarren. Dies deutete darauf hin, dass die anfängliche Unsicherheit über die emotionale Bedeutung der Töne mit dem Lernen überwunden wurde. Die bei diesem Lernvorgang stattfindenden Gehirnaktivitäten wurden dabei genauestens aufgezeichnet. Anschließend wurden die Daten mit Methoden des Machine Learnings und der Informationstheorie ausgewertet, um das neuronale Netzwerk zwischen der Amygdala, dem basalen Vorderhirn und der Inselrinde, einem Hirnareal, das interozeptive, also körpereigene, Signale wahrnimmt, abzubilden.
Das Experiment belegt, dass das Gehirn zunächst nicht weiß, wie es mit neuen Klängen umgehen soll, und erst lernen muss, Umweltreize mit körperlichem Befinden zu verknüpfen, um Verhaltensentscheidungen treffen zu können. Die Amygdala sendet hierfür Signale an das basale Vorderhirn, dieses wiederum stimuliert die Inselrinde. Mit zunehmendem Lernfortschritt ähneln die auf Töne bezogenen Aktivitätsmuster in der Inselrinde immer mehr bereits bekannten Zuständen, die Bestrafung oder Belohnung widerspiegeln: Töne und Geräusche aus der Umwelt erhalten also eine "intrinsische" Bedeutung, sie beginnen, sich gut oder schlecht "anzufühlen". Diese Wertinformation aus der Inselrinde wird anschließend zurück in die Amygdala projiziert, wo sie die Verhaltensreaktion leitet.
Blockierten die Forschenden diese Informationen, trafen die Tiere häufiger die falsche Verhaltensentscheidung. Dies zeigt, dass das Wechselspiel zwischen Inselrinde und Amygdala äußeren Reizen Körpersignale zuordnet und diesen Prozess nutzt, um zukünftige Verhaltensentscheidungen zu beeinflussen. Diese Ergebnisse erklären zum einen den Mechanismus, wie bei emotionalen Entscheidungen "aus dem Bauch heraus" entschieden wird. Zum anderen zeigen die Forschungsergebnisse aber auch, dass eine fehlerhafte Kommunikation zwischen Amygdala und Inselrinde die Fähigkeit, sich in unsicheren Situationen "richtig" zu verhalten, einschränken könnte. Geringe Toleranz für unerwartete Ereignisse spielt eine große Rolle bei psychiatrischen Phänomenen, wie Angststörungen oder Autismus, was einen Weg zu weiterführenden Fragestellungen auf Basis der Studie weisen könnte.
Das IMP – Forschungsinstitut für Molekulare Pathologie - in Wien ist einer der weltweit führenden Wissenschaftsbetriebe in der molekularbiologischen Grundlagenforschung. Ein Team um IMP-Gruppenleiter Wulf Haubensak erforschte nun anhand von Mäusen die neuronale Grundlage für intuitive Entscheidungen, für das "Bauchgefühl". Mit der Biomedical Image Informatics-Gruppe des VRVis untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dafür den Informationsaustausch zwischen den Hirnregionen Amygdala und Inselrinde.
Das VRVis übernahm in diesem Projekt die Computational Neuroscience/Data Science-Arbeit und unterstützte das IMP in der rechnerischen Auswertung der großen Datenmengen. Mittels der mit speziellen Untersuchungsmethoden gemessenen Neuronenaktivität in den Mäusegehirnen wurde ein Netzwerk bestehend aus Inselrinde und Amygdala entdeckt, welches körperliche Signale in emotionales Verhalten integrieren könnte. Durch elektrophysiologische Ableitungen und bildgebende Verfahren wurde die Aktivität von hunderten Neuronen in diesem Netzwerk aufgezeichnet. Um den Informationsgehalt dieser neuronalen Aktivität während den in Experimenten ablaufenden Lernprozessen besser abzubilden, eignen sich komplexe mathematische Ansätze. Daher wendete das VRVis Methoden aus dem Bereich des Machine Learning an und baute neuronale Decoder. Die Forschenden trainierten künstliche neuronale Netze, um aus der gemessenen Aktivität der Neuronen das Vorhandensein von Stimuli oder Verhaltensweisen vorherzusehen. Die Genauigkeit dieser Decoder ermöglichte Aussagen darüber, wie sehr ein Stimulus in einer Gehirnregion abgebildet sein könnte.
Parallel dazu war es von großer Bedeutung, auch den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Gehirnregionen zu untersuchen. Dazu setzte das VRVis Methoden der Informationstheorie ein, konkret die Transferentropie. Diese erlaubt es aus komplexen Datenmengen ein Maß für den Informationsfluss in Netzwerken zu finden. Durch den Einsatz von Transferentropie konnten die Forschenden des VRVis den Informationstransfer aus der Aktivität vieler Neuronen berechnen. Dies half bei der Erkenntnis, dass eine umfassende Übertragung von Informationen zwischen Inselrinde und Amygdala erfolgt - welche die Basis für korrekte intuitive Verhaltensentscheidungen darstellte.
Der Einsatz von Methoden des Machine Learning und der Informationstheorie (Transferentropie) war wesentlich, um die relevanten Informationen aus den großen Datenmengen zur neuronalen Aktivität herauszuarbeiten. Auf dieser Basis wurde die kommunikative Brücke zwischen Amygdala und Inselrinde identifiziert, die für affektives beziehungsweise emotionales Lernen zuständig ist. Dadurch konnte entschlüsselt werden, wie der affektive Wert, also die emotionale Bedeutung im neuronalen Aktivitätsmuster dieses Netzwerks zustande kommt.
Die Forschungsarbeit wurde im renommierten wissenschaftlichen Journal eLife veröffentlicht.